Nach einem anstrengenden Tag in der Schneiderei ihres Vaters, dem sie so gerne half, fiel Wilmi in ihr weiches Bett. Der Mond schien durch das große Fenster in ihr Zimmer und tauchte es in ein gespenstisches weißes Licht. Von Draußen hörte sie die Geräusche der kleinen Stadt bei Nacht, spielende Katzen, vorbeigehende Menschen oder Hufgetrappel drangen in Wilmis Zimmer. Doch diese Nacht hörte sie noch ein anderes Geräusch, ein leises Kratzen, das sie zuerst im Halbschlaf irritierte, dann neugierig machte. So schlüpfte sie aus dem Bette und fand schnell die Quelle: eine kleine, magere Fledermaus lag auf dem Brett vor ihrem Fenster und kratzte mitleidserregend am Glas. Wilmi, die Tiere sehr liebte, öffnete schnell das Fenster, packte die Fledermaus vorsichtig und gab ihr zu trinken und zu fressen. Nachdem sich die Fledermaus ordentlich gestärkt hatte, schien sie schon viel kräftiger und flatterte Freudig im Zimmer umher und schließlich aus dem Fenster wieder in die Nacht hinaus, aus der sie gekommen war. In der nächsten Nacht, als sich Wilmi gerade in ihr Bett gekuschelt hatte, hörte sie erneut das Kratzen am Fenster und sah die Fledermaus. Ohne zu zögern ließ sie die Fledermaus ein und fütterte sie, obwohl sie den Tag über schon ärger von ihrem Vater bekommen hatte, weil sie, aufgrund des wenigen Schlafs, eines der Kleider ruiniert hatte. Gierig trank die Fledermaus und war dann schnell wieder in die Nacht verschwunden. Die nächsten Nächte wurde die Fledermaus zum erwarteten Besucher von Wilmi und, obwohl sie ihr den Schlaf raubte, freute sie sich über jeden Besuch. Mit jeder Nacht schien die Fledermaus größer und kräftiger zu werden und bald war sie größer als ein Hund. Eines Nachts, als Wilmi die Fledermaus gerade gefüttert hatte, fragte die Fledermaus plötzlich: “Wilmi, du bist so gut zu mir. Nun möchte ich mich bei dir revanchieren. Ich möchte dir einen Palast zeigen, in dem du leben könntest. Dort ginge es dir viel besser als hier.” Wilmi war zuerst abgeneigt, doch stimmte schließlich zu, sich den Palast wenigstens einmal anzusehen. Also nam die Fledermaus, die inzwischen groß genug war, um Wilmi zu tragen, an der Hüfte und schwang sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Nach einem kurzen Flug landete die Fledermaus mit Wilmi bei einem wirklich gewaltigen Palast aus dem allerbesten Gestein, mit unzähligen Kronleuchtern und Kerzen im Inneren, alten Gemälden, silbernem Besteck und einer reich gedeckten Tafel, wie sie es noch nie gesehen hatte. “Wem gehört dieser Palast?”, fragte Wilmi, doch die Fledermaus antwortete nur, dass die Besitzer schon vor langer Zeit gestorben seien und der Palast seither leer stünde. Als sich Wilmi eine Zeit lang im Palast umgesehen hatte, gefiel er ihr so gut, dass sie nun nicht mehr nach Hause wollte und beschloss, von nunan in diesem Palast zu wohnen. Doch schon bald war Wilmi sehr einsam und so fragte sie die Fledermaus, ob sie nicht auch ihre Mutter in den Palast holen wolle. Die Fledermaus stimmte zu. So geschah es, dass kurz bevor sie zu ihrem Gatten ins Bette schlupfen wollte, auch Wilmis Mutter ein Kratzen hörte, doch nicht vom Fenster, sondern von der Tür der Schneiderei. Als sie diese öffnete sah sie die prachtvolle Fledermaus, mit ihrem weichen Fell und den großen Augen, die vor der Tür stand und auf etwas zu warten schien. Natürlich hatten die Frau und der Schneider schon längst bemerkt, dass Wilmi fehle und deshalb war die Frau so traurig, dass sie schon seit Tagen nicht mehr gegessen hatte. Also beschloss sie, die Fledermaus zu füttern, da sie selbst ja eh nicht essen könne. Auch die Frau ging bald jede Nacht vor die Türe, um die Fledermaus zu füttern. So bemerkte der Schneider nicht, dass die Frau aus Kummer nicht aß, und die Fledermaus wuchs und wuchs weiter, bis sie so groß wie ein Pferd war. Eines Nachts, als die Frau, wegen des Schlafmangels und der mangelnden Ernährung kaum wieder zurück zu ihrem Mann zurückgehen konnte, als die Fledermaus auch zu ihr sprach und ihr versprach, dass sie ihre Tochter wieder sehen könne, wenn sie ihm nur genug vertraue. Ohne zu zögern stimmte die Frau zu und die Fledermaus brachte sie auch zum Palast, wo sich Mutter und Tochter wieder hatten und sich vor Freude heulend im Arm lagen. Beide waren überglücklich und lebten nun zufrieden zu dritt im Palast der Fledermaus. Der Schneider jedoch war nun alleine und suchte im Dorf nach seiner Familie, doch fand sie nicht. Als er nicht mehr weiter wusste und verzweifelt in sich zusammensackte, sprach ihn ein Landstreicher an. Dieser erzählte ihm von der Fledermaus, die er jede Nacht am Fenster von seinem Haus gesehen habe. Nun fasste der Schneider wieder Hoffnung, nahm seinen wärmsten Mantel und einen Wanderstock und machte sich auf in den Wald, auf der Suche nach der Fledermaus, welche seine Familie geraubt hatte. Nach lange Suche fand er den Palast, doch als er ihn betreten wollte, stellte sich die Fledermaus, inzwischen groß, vollgefressen und mächtig vor ihn und befahl ihm: “Kehre um, hier gibt es nichts für dich!” Doch der Schneider wollte seine Familie nicht aufgeben und versuchte, an der Fledermaus vorbei zu gehen, doch diese griff ihn mit ihren mächtigen Krallen, schlug mit den ledrigen Flügeln und hob ihn in die Lüfte. Sein Wanderstock schlug nutzlos gegen die Flanken der Fledermaus und schon bald verlor er ihn. Die Fledermaus setzte ihn mitten im entferntesten und düstersten Wald ab und flog zurück zum Palast, denn dort hatte sie in jener Nacht ein Festmal geplant. Nur wenige Momente, nachdem die Fledermaus verschwunden war, hörte der Schneider Geräusche von allerlei Tieren um sich und fand sich sogleich von einem Rudel Wölfen umringt. Auch die Wölfe hatten in jener Nacht ein Festmal.